Herausforderungen ohne Ende
Es ist Samstag, 13 Uhr. Anpfiff für die E-Jugend. Für Victor Rebmann, 14 Jahre alt und frisch ausgebildeter Jung-Schiedsrichter, beginnt seine Karriere als Spielleiter. Entsprechend aufgeregt ist er schon den ganzen Morgen. Den Lehrgang hat er problemlos absolviert, auch in der verschärften Form, hat seitdem seinem ersten Einsatz entgegen gefiebert. Das Trikot ist gekauft, musste, obwohl Victor groß für sein Alter ist, in der kleinsten Größe extra bestellt werden; er kann ja auch noch reinwachsen. Die Stutzen waren nicht rechtzeitig lieferbar. Egal. Dann muss es eben die lange Hose tun. Pfeife, Notizkarte, Wählmarke, Kugelschreiber, Armbanduhr - alles am Mann, es kann losgehen. Victor pfeift an. Das heißt: Er muss angepfiffen haben, denn die Spieler laufen los. Draußen war nichts zu hören. Victor hat eh mit anderen Problemen zu kämpfen: Mist, wo muss ich auf dieser blöden Notizkarte jetzt aufschreiben, wann es losging? Wann ist Halbzeit? (25 Minuten später.) Egal, einfach auf die Karte schreiben. Das Spiel läuft längst irgendwo anders auf dem Platz. Also nichts wie hinterher. Der Ball geht ins Seitenaus, erste Verschnaufpause. Einwurf. Die angezeigte Richtung stimmt, durchatmen. Dann der erste Zweikampf, ein Spieler wird an der Mittellinie unsanft von den Beinen geholt. Schrecksekunde bei Victor. Von draußen kommt der erste Zuruf. Weckruf. Stimmt ja, er ist der Chef. Er muss pfeifen. Solange er nicht eingreift, kämpfen die Jungs weiter. Also Pfiff. Wieder nix zu hören, die Jungs spielen weiter. Verstörter Blick auf die Pfeife, eine „Fox“. Neuer Versuch. Jetzt klappt`s. Jedenfalls so laut, dass die Spieler ihre Bemühungen einstellen. Der Freistoß wird schnell ausgeführt, kein Verschnaufen diesmal. Der Ball wird an den Strafraum gespielt, ein Spieler fällt im Zweikampf. Victor pfeift sofort, steht noch am Mittelkreis, hat das Spiel von dort gebannt verfolgt. Die Entscheidung ist vertretbar, trotzdem wird draußen gemault: „Kann der von dort doch gar nicht sehen!“ Weiter geht’s, diesmal ist Victor unmittelbar am Geschehen, spurtet direkt neben den Spielern her als einer von beiden umgestoßen wird. Keine Reaktion. „Wie bei meinem alten Fernseher“, brummelt ein Zuschauer, „entweder kein Bild oder kein Ton!“ In der Tat, gleichzeitig bei hoher körperlicher Beanspruchung genau zu beobachten, will gelernt sein, ist für jeden neuen Schiedsrichter eine der schwierigsten Aufgaben. Dazu kommt gerade bei den kleinsten Kickern, dass die Motorik noch nicht voll ausgebildet ist: Dr. Günther Peth, Sportmediziner aus Darmstadt, weiß: „Richtig laufen lernen Kinder erst mit sieben bis acht Jahren. Früher sind sie dazu motorisch nicht in der Lage, fallen noch über die eigenen Füße“. Will heißen: Nicht jedes Mal, wenn einer fällt, ist’s ein Foul. Die Eltern sehen das anders, klar. Das Spiel läuft weiter. Endlich fällt das 1:0, ein schöner Weitschuss. Niemand hat etwas zu maulen. Dennoch steht Victor vor seiner nächsten Herausforderung: Wo ist mein Kugelschreiber? Das Spiel läuft längst wieder, da fahndet er noch immer in seinen vielen Taschen, sucht auf dem Platz. Hätte ihm sein Pate, der ihn begleitet, auch sagen können, dass er einen zweiten mitnehmen soll. Also: Ergebnis im Kopf notieren. Da fällt schon das 2:0, der Schiri ist gerade rechtzeitig wieder online. Endlich Halbzeit. Kurze Einweisung des Paten in die Geheimnisse einer Spielnotizkarte. Hätte er auch vorher machen können. Einen neuen Stift besorgen, dann geht’s weiter. Das Spiel bleibt eng, es fällt der Anschlusstreffer, erst kurz vor Schluss das erlösende 3:1. Die Zuschauer gehen lautstark mit, auch weil die „Fox“ nach wie vor nicht zeigt, was in ihr steckt. Victor ist so mit dem Spiel beschäftigt, dass er das alles nicht mitbekommt. Selektive Wahrnehmung, voll auf das Spielgeschehen konzentriert. Endlich, in den letzten zehn Minuten ist deutlich zu spüren, dass er im Spiel „angekommen“ ist, dass er sich wohl fühlt. Die Entscheidungen sitzen. Schlusspfiff. Mit rotem Kopf, die Anspannung steht ihm ins Gesicht geschrieben, kommt Victor vom Platz, schwebt auf Wolke sieben, dass er sein erstes Spiel ohne große Probleme gemeistert hat. Jetzt ist er wirklich Schiedsrichter. Auf der Heimfahrt wird noch ein kleiner Zwischenstopp im Wald eingelegt: „Fox“-Test. Und siehe da, es klappt. An diesem Tag hier hat hier kein Jäger mehr eine Chance.
Victor ist einer von 700 hessischen Jung-Schiedsrichtern. Allen geht es gleich. Sie alle verdienen unsere Hochachtung, haben sie es doch nicht nur mit gleichaltrigen Jugendlichen zu tun, sondern auch mit Erwachsenen, die nur zu oft das eigentliche Problem sind. Ein geregelter Jugendspielbetrieb mit seinen in Hessen weit über 3000 Spielen jede Woche wäre ohne diese Jugendlichen, die ohne Zweifel zu den reifsten ihrer Jahrgänge gehören, kaum vorstellbar. Sie zeigen jede Woche wieder, wie viel man mit Begeisterung erreichen kann. Die Probleme aus dem ersten Spiel sind für Victor bei seinem zweiten Einsatz aber schon Geschichte.
Hessen Fußball 3-2007 von Dr.Michael Imhof